Daniel Suarez: Daemon

Daniel Suarez: Daemon. – Reinbek: Rowohlt, 2010

Gastrezension von Karin Henjes.

Nach den ersten zehn, zwanzig Seiten ist ein heftiger Impuls zu verspüren. Nichts wie hin zum Laptop und alles löschen: das Profil bei Xing, die Blogposts und am besten auch noch alle E-Mail-Konten. Abgesehen davon, dass das meiste trotzdem überdauert, ist das ein billiger Fluchtimpuls. Besser wäre es, sich mit Computern wirklich auszukennen. So wie Daniel Suarez, der obigen Impuls mit seinem IT-Thriller „Daemon“ provoziert. „Es war meine Absicht, die Augen der Öffentlichkeit für die Fragilität unserer hyper-verlinkten Welt zu öffnen,“ bekundet Daniel Suarez seine schriftstellerische Intention im E-Mail-Kontakt. „Ein Thriller schien mir das beste Medium“.

Während in Deutschland die ersten Exemplare kursieren, ist das coole Teil in den USA bereits Kult, im Film-Kasten und mit einer Fortsetzung am Start. Daniel Suarez, dessen „Daemon“ seit 19. März in Deutschland vertrieben wird, arbeitet als Systemberater und hat in der englischsprachigen Netzgemeinde den Status eines Cyberpunkers. Bereits 2006 veröffentlichte er seinen Page-Turner im amerikanischen Eigenverlag, 2009 erschien bei Dutton die offizielle Version von „Daemon“ – die nun auch in Deutschland die Netzgeister auf den Plan ruft. Und zwar, indem sie selbst einen Geist heraufbeschwört: den fiktiven Softwaremogul Matthew A. Sobol, der sich die Welt via Informationstechnologie einverleibt. Schon diese technisch fundierte Geschichte allein würde reichen, ein globales Magengrummeln zu erzeugen. Der Clou an Suarez‘ Fiktion aber ist, dass Sobol nicht mehr lebt. Dessen Unterwerfungsprogramm – eine sogenannte „Daemon“-Funktion – startet erst, nachdem Sobol einem Hirntumor erliegt. Es agiert unwiderruflich und tritt stets nach klar definierten Ereignissen in (schreckliche) Aktion. Sei es in Form von EDV-animierten Morden via Haustechnik, Unterwelt-Handel mit gestohlenen Identitäten oder Infiltration gigantischer Kommunikationssysteme.

„Daemon“ dokumentiert mehr als ein Jahr und zahlreiche Charaktere. Der eigentliche Protagonist des Romans jedoch ist Matthew A. Sobol. Der wiederum steht für einen ungleich komplexeren Charakter: das Internet. Mit drastischen erzählerischen Mitteln wird allen Nicht-IT-lern auf 656 Seiten klar gemacht, wie wenig sie über die Maschinen, die sie täglich bedienen, wissen. Als besonders gefährlich erachtet Daniel Suarez dabei die Homogenität der großen Netzwerke. „Die Unternehmen wachsen und fusionieren“, äußert der Software-Profi besorgt. „Gleichzeitig vereinheitlichen sie ihre Systeme, damit diese leichter zu handhaben sind. Indem sie jene zusammenführen und Überkapazitäten eliminieren, werden sie uniform und anfällig – ähnlich wie Monokulturen in der Natur.“

Als herausragende Eigenschaft des Sobol’schen Daemon-Programms hebt Daniel Suarez immer wieder dessen Fähigkeit hervor, Informationen zu lesen und darauf zu reagieren. Für die Menschheit wäre es an der Zeit, diese „Daemon“-Eigenschaft ebenfalls zu kultivieren. Längst schon müsste es eine schulische Disziplin geben, die sich im großen Stil mit allen Aspekten der Informationstechnologie befasst. Schließlich sei es in einer Demokratie überlebensnotwendig, die Funktionsweise von Netzwerken und die Wege der Daten zu kennen, mahnt Suarez an. Sonst, so das Fazit seines eindringlichen Druckwerks, wird es weitergehen wie bisher: Ein paar Freaks, ein paar Unternehmer und ein paar Politiker formen die neue Welt. Denn eines wird in „Daemon“ mehr als deutlich: Das Internet ist die Welt.

(c) Karin Henjes

Volker Kutscher: Der nasse Fisch

Volker Kutscher: Der nasse Fisch. 14. Aufl. – Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010

Berlin, Mai 1929. Kriminalkommissar Gereon Rath, Anfang 30, verbringt seine ersten Tage in seiner neuen Dienststelle, der Sittenpolizei. Eigentlich schlägt sein Herz für die Mordkommission, aber wie man peu à peu erfährt, hat er in Köln in Ausübung seines Dienstes einen jungen Mann erschossen, der ausgerechnet der Sohn des dortigen Medienzaren gewesen ist, und dieser versuchte nun, Gereon Rath in seinen Gazetten fertig zu machen. Rath sah keine andere Möglichkeit, als die Dienststelle zu wechseln, und die einzige freie Stelle in Berlin war bei der Sitte. Durch Zufall sieht er im Leichenschauhaus die verstümmelte Leiche des Mannes, der einige Tage vorher in seiner Pension nach seinem russischen Vormieter gesucht hatte – anstatt dem hochmütigen Kollegen von der Mordkommission sofort davon in Kenntnis zu setzen, macht er sich daran, den Fall auf eigene Faust zu lösen, während die Kollegen im Dunkeln tappen.

Die Kulisse, in der die Handlung spielt, ist der in die Geschichte eingegangene „Blutmai“: In den Arbeitervierteln Berlins kam es zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen – trotz Demonstrationsverbot – demonstrierenden Arbeitern und der Polizei, die durch ihr schießfreudiges Verhalten zu einer Eskalation der Verhältnisse führte. Nach sechs Tagen waren 33 Tote auf Demonstrantenseite zu verzeichnen. Doch in den anderen Vierteln ging das Leben seinen normalen Gang, und so tingelt Rath durch die Varietés der Stadt, um herauszufinden, was es mit dem toten Russen auf sich hat.

Die Leute rauchen Overstolz und Juno und fahren in Autos der Marke Horch. Am Hermannplatz wird gerade die Ubahn gebaut, am Kiosk kann man den „Angriff“ kaufen (das Hetzblatt der ‚Völkischen‘), der Tote wird aus dem Landwehrkanal gefischt und an der Friedrichstraße stehen Häuser. Aha. Es gibt auch Transvestiten-Varietés. Wenn der gemeine Berliner spricht, ‚balinert‘ er. Als ein vollgekokster Pornodarsteller hoch oben auf einem Gerüst nach einer Verfolgungsjagd schließlich gestellt wird, sagt der erwartungsgemäß: „Und wenn ick dir ein Loch in deine Birne brate, kannste det ooch verjessen, wa?“

Hilfe, genug! Die Sprache ist hölzern, die Personen durchgängig blaß, die Szenerie strotzt von klischeehaften überflüssigen Beschreibungen und Belehrungen, der Plot ist langatmig, und die Hauptperson hat die psychische Reife eines Vierzehnjährigen. Der Roman hat 543 Seiten – bei Seite 155 habe ich entnervt aufgegeben.

Wer mehr über die interessanten historischen Hintergründe des „Blutmai“ wissen will, ist bei Wikipedia gut aufgehoben, der Rest ist Zeitverschwendung. Und wer sich für die Weimarer Republik interessiert, sollte die Kajetan-Romane von Robert Hültner lesen.

John Harvey: Schau nicht zurück

John Harvey: Schau nicht zurück. – München: dtv, 2007

Die Polizistin Maddy Birch wird bei einem Polizeieinsatz Zeugin bei der Erschießung des mutmaßlichen Verbrechers James Grant – Notwehr, so heißt es bei der anschließenden Untersuchung, aber es bestehen Zweifel, denn plötzlich war neben dem Erschossenen eine kleine Derringer-Pistole aufgetaucht, über deren Herkunft Maddy sich nicht ganz sicher ist. Ein paar Tage später ist Maddy tot, beim Joggen erstochen. Als der pensionierte Detective Inspector Frank Elder Interesse an dem Fall zeigt, da er die Polizistin von früher kennt, wird er gebeten, bei der Aufklärung behilflich zu sein. Ist sie vielleicht das Opfer eines früheren Liebhabers geworden, der von seinen jeweiligen Freundinnen befremdliche Sexpraktiken verlangte? Oder steckt mehr hinter der Sache? Elder verfolgt den Verdacht, Polizisten könnten in illegale Machenschaften verwickelt sein – und gerät dabei in Lebensgefahr.

Die Frank-Elder-Romane von John Harvey (dies ist der zweite) haben einen melancholischen Grundton. Frank Elder, geschieden und Vater einer Tochter, die nicht mehr mit ihm spricht, hat sich in einem kleinen Häuschen im tiefsten Winkel von Cornwall verkrochen und ist froh, wenn er niemanden sehen muß, nur seiner Gutmütigkeit und Neugier ist es zu verdanken, dass er sich ‚reanimieren‘ läßt und ins Gewühl der Menschen zurückkehrt. Als seine Ex-Frau ihn anruft, er möge sich um seine traumatisierte Tochter kümmern (siehe „Schrei nicht so laut“, den erste Elder-Roman), die langsam Gefahr läuft ins Drogenmilieu abzurutschen, fährt er sofort los, allerdings ohne viel Hoffnung, etwas ausrichten zu können. Normalerweise hasse ich solche privaten Verstrickungen in einem Krimi – was gehen mich die Privatscherereien der Ermittler an? Muß ich damit belästigt werden? Gut, manchmal mag es sinnvoll sein, in der Regel ist es ein nervtötender dramaturgischer Trick, den Leser emotional an die Figur zu binden, was mir kolossal auf die Nerven geht. Hier nicht – Harvey schafft es durch seine unaufgeregte Art, daß ich wissen will, was da passiert.
Voller Überraschung begegnet man einem alten Bekannten – Charlie Resnick, Detective in Nottingham und Hauptperson der zehnbändigen Resnick-Reihe von Harvey, von denen nur sechs ins Deutsche übersetzt wurden und die im Buchhandel nicht mehr erhältlich sind. Als Harvey mit dem ersten Elder-Roman relativ viel Erfolg in Deutschland hatte, habe ich mit bewusster Naivität eine email an den Goldmann-Verlag geschrieben, er möchte doch bitte die restlichen Resnick-Romane übersetzen lassen und die ganze Reihe neu auflegen – sie haben mir erwartungsgemäß nicht geantwortet. Zum Haare ausraufen: Da sorgt so ein schlechter bis mittelmäßiger Kram wie die Bücher von Donna Leon oder Elizabeth George für riesige Auflagen, und einer der Besten des Genres wird dem Publikum vorenthalten. Dabei bin ich mir sicher: Wären die Resnick-Romane ansprechend aufgemacht und nicht angeboten worden wie die letzte Schundliteratur, was der Goldmann-Verlag in den vergangenen Jahren ja gern unterschiedslos machte, auch sie würden – und diesmal gerechterweise – ein großes Publikum finden.

Stieg Larsson: Verdammnis

Stieg Larsson: Verdammnis. – München: Heyne, 2007

Lisbeth Salander hat gute Gründe, mit dem Journalisten Mikael Blomvist nichts mehr zu tun haben zu wollen – also gondelt sie, durch ihren frisch und illegal erworbenem Reichtum dazu befähigt, in der Weltgeschichte herum. Wieder zurück in Schweden erfährt sie, daß er an einer Geschichte über Mädchenhandel arbeitet, und entdeckt Namen, die sie persönlich betreffen. Sie ermittelt auf eigene Faust. Als nicht nur der recherchierende Journalist Dag Svensson und dessen schwangere Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden werden, sondern auch der staatlich bestellte Betreuer Lisbeths Nils Burman erschossen wird und in beiden Fällen ihre Fingerabdrücke in unmittelbarer Nähe bzw. an der Waffe gefunden werden, beginnt eine beispiellose Hatz auf sie. Doch nicht nur Presse und Polizei versuchen sie zu finden, auch Leute, von denen Lisbeth nur vermuten kann, wer sie sind, trachten ihr nach dem Leben. Mikael Blomkvist versucht unterdessen, das Dickicht zu entwirren, er ist der einzige, der an Lisbeths Unschuld glaubt, doch die entzieht sich seiner Hilfe weitgehend. So langsam entwickelt sich ihm aber das Bild eines Skandals, der weit in die schwedische Geschichte zurückreicht und der mit Lisbeths Leben unmittelbar verbunden ist.

Auch diesen zweiten Teil der Trilogie von Stieg Larsson habe ich gern gelesen, auch wenn man die ersten 250 Seiten gut auf 50 hätte kürzen können. Doch der Stil ist gewohnt flüssig, man liest das so weg und entwickelt Interesse an den Personen. Es gibt allerdings manche Übertreibungen, die meines Erachtens nicht nötig gewesen wären, so gibt es z.B. einen bösen Menschen, der nicht nur sehr groß und unglaublich stark ist, sondern auch aufgrund eines genetischen Defekts keinen Schmerz empfindet – ein quasi unbesiegbarer böser Superheld. Die hochintelligente Lisbeth Salander, bei der man vermutlich eine leichte Form von Autismus diagnostizieren kann, löst nebenbei ein mathematisches Rätsel (den Fermatschen Satz), dessen Lösung in der Wirklichkeit viele Generationen von Mathematikern beschäftigt hat – völlig überflüssig. Auch der Showdown am Ende ist zwar spannend, aber hanebüchen.

Der zweite Teil ist im Gegensatz zum ersten, der in sich geschlossen ist, ein echter Fortsetzungsroman, wenn man wissen will, wie alles ausgeht, muß man auch den dritten Teil lesen. Ich freu mich schon darauf.

Nick Stone: Voodoo

Nick Stone: Voodoo. – München: Goldmann, 2007

Max Mingus, einst gefeierter Polizist, dann erfolgreicher Privatdetektiv, hat nichts mehr zu verlieren: Als er nach sieben Jahren aus dem Knast kommt, in dem er wegen Totschlags gesessen hatte, ist seine heiß geliebte Frau gerade an einer Hirnblutung gestorben, und aufgrund seiner Taten hat er in den Staaten Berufsverbot. So läßt er sich halb widerwillig auf das Angebot der Milliardärsfamilie Carver aus Haiti ein: Er soll den fünfjährigen jüngsten Sproß der Familie, der seit zwei Jahren vermißt wird, für 10 Millionen Dollar aufspüren. Er fliegt also nach Haiti, wo ihm eine Angestellte der Familie, Chantale, als Assistentin an die Seite gestellt wird. Mit ihr zusammen versucht Mingus, die Umstände der Entführung aufzuklären: Hat der geheimnisvolle Herrscher der Slums, der Rebell Vincent Paul, etwas damit zu tun? Welche undurchsichtige Rolle spielte die Familie Carver während der Terrorherrschaften der Duvaliers (Papa Doc und Baby Doc)? Was hat es mit der Legende von Monsieur Clarinette auf sich, dem ein ähnlicher Einfluß zugeschrieben wird wie dem Rattenfänger von Hameln? Tatsächlich verschwanden schon immer Kinder auf unbekannte Weise – Mingus kommt grausigen Zusammenhängen auf die Spur, die ihn nicht nur tief in die von Aberglauben gekennzeichnete und stark verarmte Gesellschaft von Haiti führen, sondern auch die heuchlerische Verstrickung der USA in die grauenvolle Geschichte Haitis zeigen.

Der Roman, Nick Stones Erstling, ist nicht schlecht: Mehr oder weniger geschickt wird der Plot mit der Geschichte eines der ärmsten und meistausgebeuteten Länder der westlichen Hemisphäre verwoben. Die Schuld der Mächtigen und Reichen reicht weit in die Geschichte des Landes zurück, die skrupellos ihre Interessen mit Hilfe der Amerikaner durchsetzten. Ganz konkret werden humanistische Fehlentscheidungen der amerikanischen Regierungs-Administrationen jeglicher Couleur zugunsten von wirtschaftlichen Interessen angeprangert und dem Leid eines im Voodoo-Glauben verhafteten Volkes gegenübergesetzt. Stilistisch gelingt das nur mäßig: Die einzige Erzählperspektive ist die von Max Mingus, und das ist manchmal etwas holperig, vielleicht hätte sich der Autor besser für die Ich-Perspektive entschieden? Viele Dinge, Mingus betreffend, sind unglaubwürdig, z.B. war er noch nie in Haiti, spricht die üblichen Sprachen nicht und hat keine Bekannten dort – die schlechtesten Voraussetzungen für ein Engagement, die man sich vorstellen kann. Und so hat er auch oft mehr Glück als wahrscheinlich ist – na ja, ist eben ein Roman. Was mir manchmal richtig auf die Nerven ging, waren die stellenweise miese Sprache und äußerst mißglückte Szenen, z.B. S. 250, Mingus interviewt einen alten weisen Voodoo-Priester: „Es steckte vielleicht nicht mehr allzu viel Leben in Dufour, aber Max spürte den eisernen Willen, der seinen gebrechlichen Körper aufrecht hielt.“ Immer wieder gibt es solche ironiefreien und klischeeverliebten Sätze. Aber Stone übt ja noch.

Duane Louis: Blondes Gift

Duane Louis: Blondes Gift. – München: Heyne, 2007

Jack sitzt in der Flughafenbar, als ihm eine ihm fremde Frau eröffnet, sie habe ihm gerade Gift in sein Bier getan, er werde noch zehn Stunden leben. Jack hält das für eine interessante Art der Anmache und die Frau für eine Spinnerin, auch wenn sie ihm genau erklärt, wie die Symptome verlaufen werden. Sie stellt die Forderung, er müsse nun bei ihr bleiben, dann würde sie ihm das Gegengift geben. Jack verabschiedet sich – kein Grund, unhöflich zu werden – aber kaum in seinem Hotel angelangt, geht die Kotzerei los. Offensichtlich hat die Frau nicht gescherzt. Schnell fährt er mit dem Taxi zurück zum Flughafen und kommt gerade noch rechtzeitig: Die Frau verabschiedet sich mit einem langen Kuß von einem Begleiter und fährt mit Jack zurück ins Hotel. Dort erzählt sie ihm eine irre Geschichte: Sie, Kelly White, sei Mitarbeiterin in einem Labor gewesen, daß mit Nanopartikeln zur Ortung von Entführungsopfern experimentiert. Sie habe sich mit einem Serum infiziert, nun würden sich die von einem Satelliten ortbaren Nanoteilchen in ihren Körpersäften virengleich vermehren, aber es sei etwas schief gegangen, die Teilchen seien ein Ortungssystem, das feststellen könne, wenn sich in einem Radius von drei Metern niemand in ihrem Umkreis befinde. Wenn das der Fall sei, würde ihr Gehirn explodieren, was mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ihren Tod bedeuten würde.

Perspektivenwechsel. Der Mitarbeiter des nach dem 9/11-Debakel ins Leben gerufenen Ministerium für Heimatschutz Kowalski wird gern als Killer eingesetzt. Der Ex-GI erhält seine Befehle über Handy, und eine seiner besonderen Fähigkeiten ist, keine Fragen zu stellen. Unterbrochen in seiner Privatfehde gegen die italienische Mafia von Philadelphia (die hatte seine schwangere Freundin getötet, seitdem eliminiert er peu à peu alle ihre Mitglieder), erhält er den Auftrag, den von Kelly White am Flughafen geküßten Mann zu verfolgen. Noch nicht lange in seinem Haus, liegt dieser tot in seinem Bad – sein Hirn ist explodiert. Kowalski erhält den Befehl, den Kopf abzutrennen und zu einem bestimmten Ort zu bringen, was aber für ihn bedeutet, nicht nur die hysterische Frau des Opfers, sondern auch einen neugierigen und habgierigen Nachbarn ruhig zu stellen – sprich: Zu töten. Kowalski ist langsam genervt: Der Kontaktmann erscheint nicht, stattdessen soll er in das Hotel fahren und Kelly White sicherstellen, den Kopf in einer Sporttasche immer dabei …

Und so geht’s immer weiter, die Handlung rennt und rennt und rennt – in immer unwahrscheinlichere Verläufe. Die Kapitel sind teilweise nur Sekundenabschnitte, es gibt noch mehr Leichen, Prügeleien, unglaubliche Szenen, ein bißchen ist das ganze wie ein Comic. Die Auflösung ist läppisch, nicht nur weil der bisher unbescholtene Jack en passant seine Frau, die sich von ihm scheiden lassen will, umbringt, um die Fürsorgefrage für das gemeinsame Kind für sich zu entscheiden: Die Ausgangssituation und der Verlauf der Geschichte sind so abstrus, die Geschwindigkeit so rasant, daß dem Verfasser wahrscheinlich nichts besseres einfiel, als sie einfach mit einer kleinen Lösung auslaufen zu lassen. Nett sind die satirischen Seitenhiebe auf den amerikanischen Sicherheitswahn seit dem 11. September 2001 und seine Gefahren, und die Charakterisierung des Killers Kowalski, dem sein Ausweis als Mitarbeiter des Heimatschutzministeriums Tür und Tor öffnet, macht Spaß. Insgesamt jedoch halte ich den Roman für mißlungen. Kann man lesen, muß man aber nicht, ich war am Ende eher unbefriedigt: Schnell gelesen, aber ebenso schnell wieder vergessen.

Stieg Larsson: Verblendung

Stieg Larsson: Verblendung. – 5. Aufl. – München: Heyne, 2007. – 687 S.

Mikael Blomkvist, bislang angesehener Wirtschaftsjournalist Mitte 40 und Mitherausgeber der kleinen, aber renommierten Zeitschrift „Millennium“, wird wegen Rufmord zu einer hohen Geldstrafe und drei Monaten Gefängnis verurteilt – er ist einer Intrige des 200-Milliarden-Kronen-schweren Industriellen Wennerstroem zum Opfer gefallen. Blomkvist zieht sich zurück und läßt sich widerwillig von Henrik Vanger, einem betagten Familienpatriarchen einer alten Industriellendynastie, engagieren, um dessen Nichte Harriet zu suchen, die vor 43 Jahren unter ungeklärten Umständen spurlos verschwand. Vanger ködert den Journalisten mit Informationen über Wennerstroem, so daß Blomkvist sich auf den Deal einläßt: Ein Jahr lang soll er auf der kleinen Insel Hedeby, dem Familiensitz der Vangers, recherchieren, der Lohn wird unabhängig vom Resultat ausgezahlt. Tief dringt Blomkvist nun in die Familienstruktur ein, teilweise gegen massiven Widerstand der Beteiligten, und versucht, den Ablauf des Tages, an dem Harriet verschwand, genau zu rekonstruieren: Wie konnte sie unbemerkt verschwinden von einer Insel, die an dem Tag von der Außenwelt abgeschottet war, was wußte Harriet, das vielleicht einem ihrer Verwandten gefährlich werden konnte? Warum sträuben diese sich nun, konstruktiv mit Blomkvist zusammenzuarbeiten? Das Leben sei kein Agatha-Christie-Roman, sagt Blomkvist einmal, und so kommt es, daß er Geheimnisse zu Tage fördert, deren Grauenhaftigkeit jeder Beschreibung spottet, und die ihn selbst in Lebensgefahr bringen …
Parallel wird die Geschichte Lisbeth Salanders erzählt, eine eigentümliche junge Frau Mitte 20: Dürr, mit vielen Tattoos und Piercings bestückt, macht sie eher den Eindruck eines verstörten drogensüchtigen Teenagers als den einer kompetenten Mitarbeiterin einer Sicherheitsagentur, bei der sie sich als Freie durchgesetzt hat. Und ein bißchen gestört ist sie wohl auch: Asperger-Syndrom, denkt Blomkvist einmal, das ist eine leichte Form von Autismus. Ihre Fähigkeiten sind phänomenal: Vermutlich ist sie die beste Hackerin Schwedens, sie hat ein fotografisches Gedächtnis, ihr Unrechtsbewußtsein allerdings ist, was die eigenen ‚kleinen‘ Vergehen anbelangt, recht schwach ausgeprägt. Und trotz ihres Hilflosigkeit ausstrahlenden Aussehens weiß sie sich auch in schwierigen Situationen zu helfen, wie der Umgang mit ihrem staatlich bestellten und, wie sich herausstellt, sadistischen Betreuer zeigt.
Da Blomkvist in der Endphase seiner Recherche Hilfe braucht, wird Salander zu seiner Assistentin – und rettet ihm das Leben.

Trotz seiner fast 700 Seiten ist dies ein empfehlenswerter Roman. Ich gebe zu, ich war etwas skeptisch, denn ich finde, das häufig anzutreffende Attribut „schwedisch“ für Kriminalromane ist an sich noch kein Qualitätsmerkmal, wie uns die Werbung weismachen will. Die Recherchen in den Familienangelegenheiten nehmen breiten Raum ein, werden aber (fast) nie langweilig, denn die Personen sind glaubhaft konstruiert. Die ‚Helden‘ Blomkvist und Salander sind oft voller Selbstzweifel, das ist gut, das macht sie trotz aller besonderer Fähigkeiten lebensnah und nachvollziehbar. Die Kritik an der schwedischen Wirtschaft ist eigentlich eine Anklage eines ungebremsten kapitalistischen Verhaltens, das sich bar jeder Moral weltweit durchzusetzen versucht, ein Umstand, dem jedenfalls in Schweden, so Larsson, die Wirtschaftspresse zu wenig entgegen setzt. Laut Klappentext ist dies der erste Teil einer Trilogie des leider viel zu früh verstorbenen Stieg Larsson.
Ich freu mich schon auf den nächsten Teil.

Minette Walters: Fuchsjagd

Minette Walters: Fuchsjagd (Fox Evil). – München: Goldmann, 2007. – 476 S.

Der junge Londoner Rechtsanwalt Mark Ankerton verbringt die Weihnachtstage auf dem Sitz seines Mandanten, des pensionierten Colonel James Lockyer-Fox, um ihm beizustehen. Die Frau von Lockyer-Fox ist nämlich gerade unter mysteriösen Umständen gestorben: Sie ist nachts auf der Terrasse des eigenen Hauses erfroren. Obwohl Lockyer-Fox offiziell von jedem Verdacht freigesprochen wurde, brodelt die Gerüchteküche in dem kleinen Ort Shenstead, besonders angeheizt durch zwei seiner besser gestellten Damen, Eleanor Bartlett und Prue Weldon, die sich nicht nur in aller Öffentlichkeit das Maul zerreißen, sondern Lockyer-Fox mit nächtlichen Anrufen terrorisieren. Ankerton sieht an seinem leicht heruntergekommenen Mandanten erschrocken, daß die Zermürbungspraxis erfolgreich zu sein scheint, denn noch eine Person ruft mit verstellter Stimme ständig an und droht mit Insiderwissen aus den nicht immer glücklichen Annalen der Familie. Der Colonel verdächtigt seinen verstoßenen Sohn, ein Spieler und Gauner, dem Erhalt des Erbes etwas nachhelfen zu wollen, und bemüht sich deshalb um Kontakt zu seiner 28jährigen Enkelin, die ein Kind seiner drogensüchtigen Tochter ist und als Baby zur Adoption freigegeben wurde. Die Enkelin, Nancy Smith, kommt auch nach erstem Zögern zu Besuch und versucht, Mark Ankerton in seinen Bemühungen zu unterstützen, Licht in die undurchsichtigen Verhältnisse zu bringen.

Zeitgleich besetzt fahrendes Volk, also nichtsesshafte New-Ager, unter der Führung eines charismatischen, aber brutalen Mannes, der sich Fox Evil nennt, ein kleines Wäldchen in Shenstead, das nach urkundlichen Angaben niemandem gehört, um das Bleiberecht zu ‚ersitzen‘. Schnell wird jedoch klar, daß Fox Evil Schlimmeres im Schilde führt und seine Mitstreiter nur für seine eigenen Zwecke mißbraucht.

Wer ist dieser Evil Fox? Was wird aus seinem unterentwickelten, aber intelligenten 10-jährigen Sohn? Warum erschlägt jemand brutal Füchse und wirft ihre Kadaver auf Lockyer-Fox‘ Terrasse? Was wird aus dem fahrenden Volk? Welches böse Spiel spielen die drogensüchtige Tochter und der spielsüchtige Sohn? Werden Ankerton und Nancy ein Liebespaar? Muß man diesen Roman lesen?

Zumindest die letzte Frage will ich beantworten: Nein, im Gegenteil, es ist nur meiner Ankündigung einer Besprechung zu verdanken, daß ich bis zum Ende durchgehalten habe: Das Buch ist überflüssig und langweilig, die absolut uninteressanten Familienverhältnisse werden wieder und wieder durchgekaut, die Figuren sind klischeehaft und blaß, nicht einmal der vermeintliche Oberschurke erhält Tiefe. Spaß machen lediglich die Charakterisierungen der beiden Waschweiber Prue und Eleanor, die mit satirischer Überspitzung dargestellt werden, und das einzige, was einen bei der Stange hält, ist die Sprache: Die kann schon was, die Walters, die Dialoge sind an einigen Stellen sehr geschliffen, der sprachliche Stil insgesamt verrät einiges an Talent. Das ist allerdings nicht Neues, schließlich ist das hier ihr neunter Roman. Insgesamt rate ich von der Lektüre ab, mir jedenfalls ist er mächtig auf die Nerven gegangen.

Robert Littell: Die kalte Legende

Robert Littell: Die kalte Legende (Legends). – Frankfurt am Main: Scherz, 2006

In Geheimdienstkreisen bedeutet der Begriff „Legende“ eine Tarngeschichte für einen Agenten, die möglichst wasserdicht sein muß, um auszuspionierende Gruppen infiltrieren zu können. Ex-CIA-Agent Martin Odum hatte schon viele Legenden, dummerweise hat er aufgrund eines Traumas vergessen, wer er denn nun wirklich ist: Ist sein Name, sind seine Gewohnheiten und Abneigungen, seine Wesensart und Fähigkeiten seine eigenen, oder auch nur Teile einer Legende? Mindestens zwei weitere Identitäten sind ihm sehr präsent und schaffen sich manchmal Raum, obwohl sie ganz anders sind, als die Identität Martin Odum … Nun arbeitet er als Privatdetektiv, dem es ein angenehmer Gedanke ist, sich zu Tode zu langweilen, als ihm eine junge Frau den Auftrag erteilt, den verschollenen Mann ihrer strenggläubig-jüdischen Schwester zu suchen: Die Ehe wurde nie vollzogen, und zur Scheidung muß der Mann die entsprechenden Papiere unterschreiben. Odum hat nicht viel Interesse an dem Fall, zumal er nach Israel reisen müßte, als aber seine Ex-Chefin ihm unerwarteterweise zu verstehen gibt, daß es zu seinem eigenen Besten sei, die Finger davon zu lassen, wird er neugierig – und nimmt den Auftrag an. Es beginnt eine abwechslungsreiche Odyssee durch halb Europa (London, Prag, Litauen, Moskau), die Geschichte wird immer vertrackter, alle möglichen Gruppen scheinen ihm neben der CIA nach dem Leben zu trachten. Langsam beginnt Martin Odum, sich zu erinnern …

Dieses Buch hat 2007 den Deutschen Krimipreis erhalten – ich habe nicht genug Krimis im letzten Jahr gelesen, um beurteilen zu können, ob es nicht vielleicht noch bessere gegeben hat, dieser hier ist jedenfalls wirklich sehr sehr gut. Eine immer komplexer werdende Geschichte, die zum Schluß weltgeschichtliche Ereignisse zu erklären versucht, und trotzdem liest sie sich wie ein rasanter, mit Witz und Ironie geschriebener Abenteuerroman. Die Rückblicke, die die verschiedenen Legenden lebendig machen, sind kurzweilig, die Liebesgeschichte amüsant und nur wenig kitschig, und die Beschreibung der Skrupellosigkeit verbrecherischer Politiker und Machtmenschen wird durch den hohen Unterhaltungswert des Buches nie relativiert. Eine gute Geschichte mit aufklärerischer Aussage in einem lakonischen, perfekt ausbalancierten Ton erzählt – bravo!

Nur zum Schluß ein kleiner Wermutstropfen: Selbstjustiz, so gerechtfertigt sie auch zu sein scheint und zu deren Zustimmung Littell uns geneigt machen will, ist immer, immer reaktionär.

PS: Die Besprechungen sämtlicher Romane von Robert Littell findet man hier.

Petros Markaris: Hellas Channel

Petros Markaris: Hellas Channel : ein Fall für Kostas Charitos. – Zürich: Diogenes, 2001

Kostas Charitos, Beamter bei der Kriminalpolizei in Athen, hat’s nicht so mit der Presse – auch nicht mit seinen Vorgesetzten, seinen Mitarbeitern und seiner eigenen Frau, eigentlich mit überhaupt niemanden, außer einem alten Bekannten aus Obristentagen, der ihn mag, obwohl er auf der falschen Seite stand. Da werden zwei albanische Flüchtlinge umgebracht, und die nervige Fernsehjournalistin von „Hellas Channel“ macht Andeutungen über Kinderhandel, mit denen Charitos nun wirklich gar nichts anfangen kann. Ein paar Tage später ist die Journalistin tot, im Studio erschlagen, kurz bevor sie eine aufsehenderregende Enthüllung über den Äther schicken kann. Noch ein ungeklärter Fall, der Charitos gerade noch gefehlt hat, fallen doch nicht nur alle Journalistenkollegen über ihn her, auch sein Chef macht ihm die Hölle heiß, als ihn seine Ermittlungen in einflußreiche Unternehmens- und Politikerkreise führt. Und wieder wird gemordet, und Charitos hat noch keinen Plan. Und dann dieser Verkehr in Athens Straßen in einem unerträglich heißen Sommer …

Kostas Charitos, der Ich-Erzähler, ist zwar das, was man ein A…loch nennt, aber trotzdem sympatisch, harte Schale, weicher Kern, und darüber hinaus eine amüsante Figur: In seiner Freizeit liest er gerne Wörterbücher, und sein Opportunismus ist zwar ausgeprägt, hat aber seine Grenzen. Folgende Szene ist typisch für den Tonfall, eine Sexszene mit seiner Frau, die übrigens nur dadurch zustande kommt, weil er ihr außerplanmäßig Geld für neue Stiefel gegeben hat:

„Mittendrin verliere ich die Lust und will einfach weggehen, wie man in der Pause einen langweiligen Film vorzeitig verläßt. Adrianis Stöhnen und ihre Schreie machen die Sache nur noch schlimmer. Jedes zweite Mal spielt mir das Luder einen Orgasmus vor und glaubt, daß ich nichts merke. Würde ich sie jedes Mal dafür auf die Anklagebank setzen, hätte man ihr als notorischer Betrügerin schon lebenslänglich aufgebrummt. Ich wundere mich, sooft ich Katerina ansehe, wie uns aus einem vorgespielten Orgasmus ein solches Kind erwachsen konnte. Sobald ich komme, hören Adrianis Seufzer schlagartig auf. Sie springt auf und geht aus dem Schlafzimmer. Sie weiß nicht, daß ich genau daran merke, ob sie sich verstellt oder nicht. Wenn wir nach dem Höhepunkt noch zusammen im Bett liegenbleiben und sie nach Atem ringt, heißt das, sie hatte einen Orgasmus. Wenn sie gleich ins Badezimmer rennt und sich wäscht, als hätte ich den Tripper, dann hat sie sich verstellt. Ich schlage gerade den Liddell-Scott auf, als […]“


Dies ist der erste Roman der Kostas-Charitos-Reihe, und ich weiß nicht genau, ob ich noch einen weiteren lese: Er ist ganz amüsant, aber der Plot ist kompliziert, entwickelt sich nur langsam und ist von Zufällen geprägt, man hat den Eindruck, die Form ist dem Verfasser wichtiger als die Geschichte, da können 463 Seiten lang werden. Außerdem die Namen: Karajorgi, Kolakoglou, Kostarakou, Kostaras; Manissalis, Markidis, Milionis; Sotiriou, Sotiris, Sotiropoulos, Soumadaki, Sovatzis, Starakis – ich möchte nicht wissen, wie oft ich zurück geblättert habe, um nachzusehen, wer denn nun wer ist. Als ich fertig war, entdeckte ich die Namensliste am Ende des Romans – schön doof.